Ein ganzes Unternehmen kann ausbrennen!
Durch immer komplexer werdende Prozesse kann ein Unternehmen in einen Lähmungszustand geraten, in dem die früher vorhandenen unternehmerischen Ressourcen nicht mehr erfolgreich abgerufen werden können.
Der Begriff "Burnout" bezeichnet meist einen starken psychischen und physischen Erschöpfungszustand eines Menschen. Doch auch bei Unternehmen und anderen Organisationen findet man typische Merkmale eines Erschöpfungszustandes, für den der Begriff „Organisational Burnout“ geprägt wurde. Betroffen ist in diesem Falle das Unternehmen an sich. Es verfällt in einen Lähmungszustand, den es mit den herkömmlichen Mitteln nicht mehr auflösen kann. Die Produktivität sinkt. Innovationen finden nicht mehr statt. Führungskräfte ziehen sich immer weiter zurück. Zynismus macht sich breit. Das Management kann keine nachhaltigen Impulse mehr geben. Eventuell versucht es durch Überregulierungen Kontrolle zurückzugewinnen oder inszeniert wiederholt Neustarts, die aber sinnlos verpuffen. Häufig werden in dieser Phase auch Ängste bei Führungskräften und Mitarbeitenden geschürt, um durch mehr Druck wieder zur Produktivität zu finden. Der Versuch misslingt; das Vertrauen in die Führung schwindet. Das Unternehmen brennt aus.
Organisational Burnout ist häufig strukturell bedingt
Die Überlastung ist häufig strukturell bedingt. Sind beispielsweise zu geringe Puffer materieller oder zeitlicher Art eingeplant, führen schon kleine Fehler zu gravierenden Folgen für die Kunden. Ein einfaches Beispiel: Plant ein Unternehmen beispielsweise aufgrund des Kostendrucks oder des Fachkräftemangels mit einer dünnen Personaldecke kann dies fatale Folgen haben. Kommt es z.B. durch normale (d.h. eigentlich vorhersehbare) Erkrankungen zu Arbeitsausfällen, geraten die verbliebenen Mitarbeitenden immer stärker unter Druck. Die Kundenaufträge müssen mit mehr Einsatz und höherem Tempo bearbeitet werden. Der zunehmende Druck führt naturgemäß zu mehr Fehlern, was den Druck wiederum verstärkt. Es besteht die Gefahr, dass sich ein Teufelskreis bildet, der wiederum zu mehr Krankschreibungen, weniger Personal, höherer Arbeitsdichte usw. führt.
Die Komplexitätsfalle im Zuge der Digitalisierung
Derzeit kann ich diesen Teufelskreismechanismus sehr gut bei einigen von mir betreuten Unternehmen im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung beobachten. Durch die im Zuge der Digitalisierung zur Verfügung stehenden umfassenderen Daten über Kundenwünsche, Marktbedingungen und Absatzmöglichkeiten sind Unternehmen gezwungen, ihre Produkte gezielt auf die Kundenwünsche hin zu differenzieren. Es werden neue Märkte und neue Marktsegmente erschlossen. Hinken die organisatorischen Bedingungen den Marktchancen hinterher, kann sich das Unternehmen mit einer eigentlich zielführenden Marktanalyse dennoch selbst ein Bein stellen.
Wird beispielsweise ein neues Marktsegment erschlossen, ohne dass die interne Struktur dem bereits Rechnung trägt, stelle ich bei meiner Analyse zumeist folgende Punkte fest: Die Prozesssteuerung ist unzureichend. Zuständigkeiten sind ungeregelt, Schnittstellen nicht hinreichend definiert. Steile Hierarchien erschweren zudem die Zusammenarbeit und erfordern einen großen Koordinationsaufwand. Für diesen stehen weder Zeit noch personelle Ressourcen zur Verfügung. Führungsentscheidungen bleiben in der Folge intransparent.
Um diesem Dilemma zu entgehen, werden dann häufig Steuerungstools implementiert, ohne die Akzeptanz der Mitarbeitenden zu erfragen bzw. zu gewinnen. Diese kennen die von ihnen hergestellten oder vertriebenen Produkte nicht genügend oder boykottieren die Veränderungen, da sie befürchten, dem Ganzen nicht gewachsen zu sein. Eine positive Vermittlung durch die Führungskräfte wird oftmals vermisst.
Was ist also zu tun?
Von Thorsten Dirks, CEO der Telefónica Deutschland AG, stammt der treffende Satz „Wenn sie einen Scheißprozess digitalisieren, dann haben sie einen scheiß digitalen Prozess“. Um der Falle immer komplexer werdender Prozesse zu entrinnen, ist oftmals zunächst die Gegenbewegung zielführend. Prozesse müssen erst einmal vereinfacht und überschaubar gemacht werden.
Unternehmerische Planungen sollten eine klare Ausrichtung zum Ziel haben. Dabei sind die Prozesse vom Kundennutzen her zu denken und sollten auf diesen hin vereinfacht werden. Verantwortlichkeiten und Rollen müssen oftmals neu definiert werden.
Dies macht bisweilen auch das Abschneiden alter Zöpfe bei den Führungskräften erforderlich. Daher müssen diese frühzeitig in den Prozess integriert werden. Gerade das mittlere und untere Management sowie die Mitarbeitenden entscheiden letztlich darüber, ob die Neuausrichtung gelingen wird. Alle Stakeholder einschließlich der Interessenvertretungen sind daher beizeiten einzubinden.
In einer Studie des Fachinstituts für gesellschaftliche Weiterentwicklung (FGW) wurde bereits im Jahre 2018 festgestellt, dass über 50 % der befragten Mitarbeitenden einen Anstieg der Komplexität und der fachlichen Anforderungen durch die Digitalisierung feststellten. 77 % der Mitarbeitenden, die zunehmende Anforderungen feststellten, empfanden auch eine Zunahme der psychischen Belastung. Diese Tendenz wird sich in den nächsten Jahren weiter verstärken. Interessant am Rande: Sofern betriebliche Schulungsmaßnahmen angeboten wurden, gab nur jeder Dritte eine Zunahme der psychischen Belastung an.
Aufgrund der zunehmenden Komplexität kommt zudem der Fähigkeit zur abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit eine überragende Bedeutung zu. Die Fähigkeit, im Team zusammenzuarbeiten und dabei unterschiedliche Kompetenzen und unterschiedliches Wissen zusammenzubringen, kann gezielt geschult werden. Daher sollte jedes Unternehmen frühzeitig in die Soft Skills der Mitarbeitenden investieren und Strukturen schaffen, die eine Einbeziehung der Mitarbeitenden und Führungskräfte fördern. Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, dass die Einführung und der Ausbau partizipativer Arbeitsformen zunehmend existenzielle Bedeutung für Unternehmen erlangen wird. In diesem Punkt fortgeschrittene Unternehmen werden Nachzügler schnell überholen und gewandelte Märkte für sich besetzen.